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Worum es geht:
Er hatte ihr versprochen, heil aus diesem Krieg
zurückzukehren. Aus diesem Krieg, in den er mit Zuversicht gezogen war, von dem
er überzeugt war, als Held hervorzugehen. Doch als er die junge Partisanin
erschießen soll, versagt er. Es waren ihre Grübchen, die ihn an Anna erinnerten. Oder war es doch etwas anderes?
Sein Weltbild bröckelt. Doch wird er den Weg zurückfinden?
Wird er lebend aus diesem Krieg herauskommen? Mit dem Kindersoldaten Dieter an seiner
Hand begeht er schließlich Fahnenflucht. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit
und ein Versteckspiel vor den Feldjägern …
Leseprobe:
Ratibor, Ende Mai 1942: Vertrautes Gesicht
Sie nannten ihn Lulatsch. Manchmal auch Werner.
Den zweiten Spitznamen verdankte Hubert seinem
Kameraden Dankert.
Hubert
las viel. Er müsse sich irgendwie den Verstand erhalten, hatte er zu Günther
gesagt. Es waren zwei Bücher, die er aus seinem Seesack hervorkramte. Das eine
Buch hatte einen grauen Einband, der Titel und Autor verdeckte. Er holte es nur
dann aus seinem Beutel, wenn die anderen schliefen.
Das andere
riss Dankert ihm irgendwann aus den Händen.
»Die
Leiden des jungen Werner«, lachte Dankert wie eine Ziege.
Hubert
sprang von seinem Lager auf und nahm Dankert die Lektüre ab.
»Werther.«
Huberts Stimme war ruhig und fest. Dankert war gezwungen, zu Lulatsch
aufzuschauen. Erst danach bückte Hubert sich und verstaute das Buch in der
Tasche.
»Werner.«
Dankert drehte sich zu den anderen, sah die grinsenden Gesichter und prustete
erneut los. »Und? Endet er leidvoll, dein Werner?« Dankert verzog sein Gesicht,
als quäle ihn eine große Pein.
Lulatsch
trat an ihn heran. »Du wirst dir noch wünschen, dass du so endest wie er«,
sagte er.
»Wie?«
Dankert stellte sich auf Zehenspitzen. »Willst du mir drohen?«
Hubert
zog die Augenbrauen zusammen und bleckte seine Zähne. Sofort fiel Dankert auf
seine Fersen zurück. Dann lächelte Hubert und sagte: »Du wirst enden wie Franz.
Da bin ich sicher. Nicht wie Werther.« Mit diesen Worten drehte er sich um und
ging zur Bunkertür.
Dankert
schaute sich um. »Hä?« Er starrte Dorsten an. »Wer ist Franz?«, fragte er.
»Woher
soll ich das wissen?« Dorsten winkte ab.
»Kemmerich«,
rief Lulatsch ihm zu, bevor er die Bunkertür hinter sich zuzog und im
Schützengraben verschwand.
»Hä?«
Dankert sah erneut seine Kameraden an, doch niemand blickte zu ihm.
Auch
Günther konnte nichts anfangen mit dem Namen und Huberts Vorausdeutungen. Sie
waren wohl zu nichts anderem gedacht, als Dankert zu verwirren. Und doch ging
der Name Günther nicht aus dem Kopf.
Im Mai
zweiundvierzig bekamen Günther und Lulatsch Fronturlaub. Gemeinsam saßen sie im
Zug Richtung Ratibor. Hubert las und Günther fing den Blick einiger
Jugendlicher auf, die, wie es ihm schien, mit einer gewissen Bewunderung seine
Uniform begutachteten. Er setzte sich aufrecht hin und lächelte mild. Dann
begutachtete er Hubert. Bei dessen Ein-Meter-achtundneunzig endete jede
soldatische Pracht auf Höhe der Unterarme. Die großen Hände waren nicht
geeignet für die Handhabung eines Gewehres. Die langen Finger blätterten viel
geschickter durch die Seiten eines Buches, als dass sie den Weg zum Gewehrabzug
fanden. Und so schlug Lulatsch auch jetzt das Buch mit dem grauen Einband auf.
Es war Zufall, dass Günther der Titel im Buchinneren ins Auge sprang. Kurz
zuckte Huberts Finger, als sei er erschrocken und wolle das Buch schnell wieder
zuklappen, doch dann blätterte er ruhig weiter und begann zu lesen. Günther
sagte nichts. Jedoch merkte er sich den Titel und nahm sich vor, zu Hause im
alten Bücherschrank seiner Mutter nachschauen. Oder sie direkt danach zu
fragen. Günthers Mutter war ebenfalls sehr belesen.
Man
prognostizierte Lulatsch anfangs eine Überlebenszeit im Kampf von maximal acht
Tagen. Seine Rechts-Links-Verwechselungen hatten bereits seine Ausbilder sehr in
Atem gehalten. Ihm selbst hatten sie Extra-Liegestützen eingebracht und seinem
Nebenmann beim Exerzieren ein kaputtes Jochbein.
Trotz
allem war er jetzt, im Jahr zweiundvierzig, immer noch an Günthers Seite. Und
Günther war froh darüber. Er war ihm ein guter Freund geworden.
Am
Kattowitzer Bahnhof stieg Lulatsch aus. Günther schärfte ihm ein, in einer
Woche pünktlich um fünfzehn Uhr am Bahnhof zu stehen. Hubert lachte, hievte
seinen Seesack über seine Schulter und stieg aus dem Zug.
Günther
pfiff ihn nochmals zurück und warf ihm sein Gewehr zu. Hubert streckte die Hand
aus und das Gewehr ging neben ihm zu Boden. Günther schüttelte seinen Kopf. Und
doch lief ihm ein breites Grinsen übers Gesicht.
Er
setzte sich zurück an seinen Platz und seine Gedanken wanderten zu Anna.
Eigentlich wollte er gar nicht zu oft an sie denken. Sie war seine Sommerliebe
gewesen, damals. Seit ihrem Badeaufenthalt an dem See hatten sie beide
geglaubt, nun ein Paar zu sein. Da waren sie noch halbe Kinder gewesen. Günther
lächelte still, als sich das blaue Wasser des Sees vor seinem geistigen Auge
auftat. Er glaubte beinahe, die Sonne zu spüren. Und ihre Finger. Wie sie
zufällig seine Haut berührten. Es war Spielerei gewesen. Ein leichter Flirt,
ein Händehalten und ein zarter Kuss. Ein Backfischsommer.
Doch
jetzt war die Situation anders. Es war Krieg. Er war Soldat. Da sollte er ihr
lieber nicht den Hof machen.
Günther
war nach dem Abitur und nach kurzer militärischer Ausbildung 1941 der
siebzehnten Armee der Heeresgruppe Süd zugeteilt worden.
Anfangs
hatten sie die Rote Armee in den Kesselschlachten von Umam und Kiew besiegen
können. Der Marsch auf Moskau und die Einnahme der Stadt würde noch vor dem
Winter erledigt sein. So glaubten sie. Doch der Winter kam. Der Sieg blieb aus.
Hatten sie im Herbst noch die Schlammmassen verflucht, die der Regen ausgelöst
hatte, und die jedes motorisierte Fahrzeug in sich aufzusaugen drohten, so
lernten sie nun die harten Bedingungen eines russischen Winters kennen.
Sie
waren schlecht vorbereitet. Es fehlte an passender Kleidung, an wärmenden Öfen,
an Maschinen und Motoren, die der Kälte hätten standhalten können. Noch nicht
einmal so etwas wie weiße Tarnmäntel besaßen sie. Sie boten mit ihrer grünen
Soldatentracht ein hervorragendes Ziel für jeden Angreifer. In dem weißen,
kalten Schnee.
Die
meiste Zeit jedoch verbrachten sie in irgendwelchen Löchern und Schützengräben
und froren sich die Gliedmaßen ab. Doch so hart der Kampf auch war, Günthers
Heeresgruppe Süd hielt sich im Vergleich zu Nord und Mitte hervorragend. Die
Rote Armee schaffte es nicht, sie einzukesseln. Im Mai zweiundvierzig gelang es
ihnen, die Gegner bei Charkow aufzureiben.
Günthers
Zuversicht wuchs. Sie würden es schaffen. Sie waren stark und mutig und bereit,
die Welt zu beherrschen. Sie waren Helden, Helden des deutschen Volkes.
Doch
seine großen Gedanken zur Nation wichen dem Sommerlachen und den Grübchen eines
hell leuchtenden Sterns. Anna.
Vielleicht
traf er sie ja. Jetzt. In seinem Urlaub.
Als
Günther in Ratibor aus dem Zug stieg, schaute er sich um. Er konnte keine ihm
vertraute Person entdecken. Sie wusste doch auch gar nicht, dass er heute nach
Hause kam. Was also hatte er erwartet? Sie wohnte ja noch nicht einmal hier.
Das einzige, worauf dieser kleine Funke Sehnsucht in ihm lauerte, war, dass sie
gerade ihre Cousine und beste Freundin Else besuchte. So wie jedes Jahr im
Sommer.
Günther
schulterte seinen Seesack und ging den Bahnsteig entlang. Er schaute sich um.
Fast meinte er, ein Lächeln auf den Gesichtern der ihm entgegenkommenden Leute
zu sehen, als wären sie ihm dankbar für die Leistungen, die er erbrachte. Die
auf ihn Zustrebenden eilten jedoch lediglich an ihm vorbei. Auf der Suche nach
Angehörigen oder Freunden, die der Zug soeben auf den Bahnsteig entlassen
hatte, achtete niemand auf den Soldaten in Uniform. Lediglich zwei höherrangige
Offiziere grüßten ihn mit »Heil Hitler«, nachdem Günther den Gruß eröffnen
hatte. Ein wenig lachte er über sich selbst und über das Bedürfnis, für alles
Anerkennung zu fordern.
Als
er die Straßen entlangging und immer noch niemanden getroffen hatte, den er
kannte und der ihn erkannte, fühlte er sich fast ein bisschen überflüssig hier.
Ein Fremdkörper auf der Suche nach irgendetwas.
Er
freute sich auf zu Hause, dachte an seine Mutter. Wie sie mit roten Wangen auf
ihn zueilte, ihm in die Arme stürmte. Und ihren komischen Jodler-Jauchzer ausstieß.
Günther schüttelte den Kopf und grinste. Auf seine Mutter war Verlass. Ja, sie
würde sich freuen. Der Zwanzigjährige atmete tief durch und eilte um eine
Hausecke. Unvermittelt stieß er mit jemandem zusammen und prallte gegen die
Wand.
»Was
…!« Er atmete den Duft ein und lachte ihr ihren Namen entgegen.
»Günther!«
Auf Annas Gesicht zeichneten sich die Grübchen ab.
...
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